Joachim Quirin

Theaterallrounder

1) MUSICAL-ZEITUNG.DE: Sie waren in den Achtzigern deutscher Meister im Rollkunstlauf. Wie sind Sie zur Musicalausbildung gekommen?

JOACHIM QUIRIN: Als Leistungssportler bringt man das mit: Ballett, Jazz und Modern. Ich war damals schon Gast bei der Folkwangschule, die eine Musicalabteilung hatte. Die haben mir dort als erstes erklärt, dass ich überhaupt nicht für Musicals geeignet sei, da es mir an schauspielerischem Talent fehle. (lacht) Also habe ich in Hamburg einen Tanzworkshop bei Jane Cassell gemacht. Und mit 23 Jahren hieß es dann: Jetzt oder nie- Germanistikstudium beenden oder die Aufnahmeprüfung an der Stage School mitmachen! Als ich mit der Ausbildung anfing, war Thomas Borchert gerade fertig. Und als ich den sah, dachte ich: Oh, da muss ich wirklich was leisten, um so gut zu werden! In meinem Jahrgang, zu dem auch Petra Staginnus gehörte, waren alle nett und auch – das war das Schlimme – noch gut dazu! Ein Jahrgang hinter mir war Michael Clauder. Von dem halte ich sehr viel. Der kann alles und weiß das gar nicht! (lacht wieder) Damals, nämlich zwischen 1994 und 1998, war die goldene Zeit. Da hat man schon ab dem zweiten Ausbildungsjahr in seinem Beruf gearbeitet. Wir wurden in die Theaterwelt eingeführt. Man hat nicht mit der Hauptrolle angefangen, sondern im Ensemble und als Cover. Ich habe bei "Buddy- Das Musical" gejobbt und den Spagat hingekriegt, weil ich schon Tänzer war. Mit "Buddy- Das Musical" als Long Run ging es los Richtung Musical. Bei „Sweet Charity“ mit Kaatje Dierks hatte ich sechs Auftritte die Woche. Da kam richtig Geld zusammen, und über den Beruf konnte ich die Ausbildung bezahlen. Nach meiner Ausbildung 1994 habe ich idiotischer Weise ein Rollenangebot in „Blue Jeans“ im Theater des Westens abgelehnt, weil ich als Alternative die Hauptrolle in „Eating Raul“ im St. Pauli Theater hatte als europäische Premiere. Später war ich dann im Residenztheater in München. Damals hatte man die Chance, als Darsteller in die richtigen Häuser zu kommen. Ich bin in die richtige Richtung gerutscht. Ich habe mich ausprobiert mit kleinen Stücken zwischendurch. Ich habe auch selber Sachen herausgebracht- „Das kalte Herz“ als Musical. Da habe ich Choreografie, Staging und Entwicklung gemacht.

2) MUSICAL-ZEITUNG.DE: Was ist für Sie das Wichtigste an Ihrem Beruf?

JOACHIM QUIRIN: Die Arbeit mit den Kollegen und ein guter Stoff. Mit Regisseuren habe ich immer viel Glück gehabt. Zweidrittel davon waren toll. Da bin ich ein ganz verwöhntes „Kind“. Ein Regisseur war ganz nett, aber der hat bei den Proben zur West Side Story fest geschlafen. Ab neun Uhr abends war bei dem Schicht im Schacht.

3) MUSICAL-ZEITUNG.DE: Sie arbeiten auch mit jungen Darstellern mit derselben Ausbildung wie Sie zusammen. Gibt es da Unterschiede, die Ihnen sofort auffallen?

JOACHIM QUIRIN: Die singen alle besser heute, weil es gesanglich viel höhere Anforderungen gibt. Aber im Gegensatz dazu sind einige auch schlechte Tänzer, und auch Schauspiel hängt hinterher. Für Kids gibt es auch wenige gute Stücke wie „Spring Awaking“. Mein Traum wäre es, einmal „West Side Story“ mit einer ganz jungen Besetzung zu bringen.

4) MUSICAL-ZEITUNG.DE: Sie haben in vielen Musicals mitgewirkt. Es waren auch Uraufführungen wie „Life is...“, „Maria Stuart“ und „Ludwig“ dabei. Wie ist es für Sie, eine Rolle als erster zu spielen?

JOACHIM QUIRIN: Das ist viel einfacher, viel schöner und fordernder. Ich spiele und entwickle gern. Es ist schön, wenn man in die Kompositionen da mal eine Spitze und vielleicht auch dort mal eine Tiefe hineinbekommt. 1996 habe ich beispielsweise „Chicago“ in Deutschland gespielt- kurz bevor es hier richtig bekannt wurde. Das war super-anstrengend, und ich dachte, ich sterbe dabei.

5) MUSICAL-ZEITUNG.DE: Sie spielen zum fünften Mal in einem Musical von Christian Berg und Konstantin Wecker. Was ist für Sie das Besondere an den Musicals der beiden Macher?

JOACHIM QUIRIN: Ich mag surreale Figuren, mag böse Figuren. Pinocchio ist mein Liebling. Da gibt es eine stringente Handlung und einen italienischen Musikstil. „Der Traum von Freiheit“ hat mir auch gefallen. Pierre Brice war ein sehr netter Kollege. Aber neue Stücke brauchen auch einen Vorlauf und eine Entwicklungszeit. Das Musical war vom Machen her ein schweres Stück. Vielleicht wäre „Der Traum von Freiheit“ mit etwas mehr Vorlauf noch viel spannender geworden. Ich hatte mit dem Dedo die einfachste und dankbarste Rolle, denn alles, was böse daherkommt, wird vom Publikum geliebt. Das ist wie bei „Dallas“ mit dem J.R.! Man darf alles sagen, was andere nur denken. Ich mag schräge Rollen, und mir machen die bösen Rollen Spaß. Ich bin selbst katholisch, und bei dem Dedo konnte ich aus dem Vollen schöpfen. Kirche, Nonnen und Priester sind beliebte Themen, wo man menschliche Schwächen zeigen kann. Man ist nicht der Gutmensch, für den man sich hält. Dazu fallen mir Shakespeare-Stücke ein oder das Musical „Producers“. Was für ein böses, mieses Pack! Wunderbar.

6) MUSICAL-ZEITUNG.DE: Was sind die Besonderheiten bei Märchenmusicals und beim Kindertheater?

JOACHIM QUIRIN: 1997 habe ich „Urmel aus dem Eis“ gespielt. Da habe ich gemerkt: Man muss sehr präsent sein, ganz wach sein, weil Kinder direkt dabei sind. Die verzeihen einem alles, nur nicht, wenn man sie nicht gut unterhält. Es gibt viel schlechtes Kindertheater. Heute sagt man eher Family Entertainment. Da muss man gut sein. In London machen die erfahrensten Leute Kindertheater. Bei uns heißt es hingegen: „Wenn ich nichts anderes kriege, mache ich eben das.“

7) MUSICAL-ZEITUNG.DE: Sie arbeiten unter anderem als Choreograf. Wie entwickeln Sie die Tanzszenen?

JOACHIM QUIRIN: Ich nehme mir ein Thema und orientiere mich an dem Charakter des Stückes. Gerne verwende ich Folklore- und Hipp Hopp- Elemente und arbeite auch viel mit Körpersprache. Ich habe zwischen dreihundert und vierhundert Choreografien auf dem Eis inszeniert und war Trainer und Choreograf für die Dritte der World Games und die Vierte der Weltmeisterschaft. Als Marina Kielmann eine Choreografie für Holiday on Ice brauchte, habe ich „All That Jazz“ aus „Chicago“ choreografiert.

8) MUSICAL-ZEITUNG.DE: Welche Rollen würden Sie gerne spielen?

JOACHIM QUIRIN: Man muss immer sehen, dass man das spielt, was zum Alter passt. Daher habe ich „West Side Story“ 2004 zuletzt gespielt in Kassel. Da war ich schon 37. Ich finde: Wer „West Side Story“ nicht gespielt hat, der hat kein Musical gemacht. Irgendwann ist dann aber die Grenze erreicht. Ich würde aber gerne auf der Bühne bleiben und in „Cabaret“ den Conferencier oder den Ernst Ludwig spielen. „Kuss der Spinnenfrau“ würde ich auch gerne machen. Mit Melanie Herzig habe ich eine GbR gegründet. Wir entwickeln für kleine Schiffe Stücke und haben auch eigene Stücke geschrieben. Das Problem bei den Schiffen ist, dass sie nur Revuen machen. Wir wollen die Bühnen der kleinen Schiffe mit kurzen, witzigen Stücken bedienen. Gerade haben wir „Paarkonflikte“ beendet mit dem Untertitel „Nobody is perfect“. Da will ein Pärchen einen Workshop leiten, der zeigt, wie man aus Konflikten herauskommt. Anhand eines Dummy Pärchens wird die Geschichte der Menschheit erzählt mit all’ ihren Stationen. Das Stück „In the mood“ ist etwas für Genießer und handelt von den ersten drei Tagen an Bord. Da geht es richtig ab, selbst wenn die Leute nur ihre Kabine suchen. Auch Stücke mit neuer Musik und Krimis zehn Minuten zur Kaffeezeit zählen zu den Konzepten, die wir anbieten. Wir wollen Stücke mit dem Menschen im Mittelpunkt, eben Charaktere. Nebenbei habe ich auch drei Bücher geschrieben. Das erste, nämlich „Patric Io“, ist schon erschienen. Es ist ein Krimi, der im Theater spielt. Dafür habe ich lange recherchiert und viel vom Theater hineingebracht.

Interviewstand: 08/2011 (Überarbeitung)